Sprachtabu und Euphemismen – Sprachwissenschaftliche Anmerkungen zu Stefan Scho
Sprachtabu und Euphemismen – Sprachwissenschaftliche Anmerkungen zu Stefan Schorch's "Euphemismen in der hebräischen Bibel" Hartmut Schröder 1. Einleitung Linguistische Arbeiten zu Sprachtabu und Euphemismus haben in den letzten dreißig Jahren im deutschsprachigen Raum einen enormen Aufschwung erlebt,1 was u.a. in der Zahl einschlägiger Dissertationen zum Ausdruck kommt: Luchtenberg (1985)2 zu "Euphemismen im heutigen Deutsch", Balle (1990) zu "Tabus in der Sprache", Günther (1992) zu "Sprachliche Strategien bei Phone-in-Sendungen am Radio zu tabuisierten Themen" und Zöllner (1997) zu "Der Euphemismus im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch des Englischen". Stefan Schorch (2000) hat nun eine bemerkenswerte theologische Dissertation (Leipzig 1998) vorgelegt, die an sprachwissenschaftliche Überlegungen und Methoden anknüpft und diese für eine Untersuchung von Euphemismen in der hebräischen Bibel nutzt. Bevor ich auf diese – auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht herausragende – Arbeit näher eingehen werde, sei zunächst ein kurzer Überblick über die linguistische Beschäftigung mit dem Phänomen des Sprachtabus gegeben.3 Ich gehe dabei mit Balle (1990, 177) davon aus, daß Sprachtabu und Euphemismus nicht voneinander zu trennen sind: "Wo Euphemismen sind, müssen auch Tabus sein – und umgekehrt: Euphemismen sind die andere Seite der Medaille." 2. Sprachwissenschaftliche Arbeiten zum Euphemismus und Sprachtabu 2.1. Tabu – Bezeichnung und Begriff Es ist wohl nicht mehr eindeutig rekonstruierbar, welcher Sprachwissenschaftler sich zuerst mit dem Phänomen des Sprachtabus beschäftigt hat. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß das Wort 'Tabu' erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in die europäischen Sprachen eingedrungen ist und (frühere bzw. parallele) eigensprachliche Äquivalente nicht nachweisbar sind. Mit Blick auf das Deutsche stellt Pfister (1936/1937, 631-632) fest: "Wir haben im Neuhochdeutschen kein Wort, das genau dem Wort t. entspricht, d.h. dem Begriff des Krafterfüllten, das je nach dem Wesen und der Wirkung dieser Kraft bald als heilig und rein, bald als unheilig und unrein, bald als Verehrung heischend und Scheu einflößend, bald als ein Verbot aussprechend sich darstellt. [...] Aber die altgermanischen, vorchristlichen Wörter, die uns im Gotischen als weihs und heilag entgegentreten und deren neuhochdeutschen Formen 'geweiht' und 'heilig' sind, besaßen ungefährt die Bedeutung von t." Allgemein bekannt ist, daß der britische Weltumsegler James Cook das Wort 1777 von seiner Südseereise nach England mitbrachte,4 von wo aus es sich schnell in andere Sprachen verbreitete und Eingang in die Bildungssprache fand.5 Ein Grund für die rasche Verbreitung des Wortes war nach Betz (1978, 141) neben dem exotischen Klang das "fördernde Vakuum einer wirklichen Wortschatzlücke" in den Sprachen der westlichen Zivilisationen. Für die deutsche Bildungssprache kann Tabu bereits in Meyer's Conversations-Lexicon aus dem Jahre 1851 belegt werden, wo es noch ausschließlich zur Beschreibung von Gemeinwesen der 'Naturvölker' Verwendung findet. Betz (1978, 141) weist aber darauf hin, daß das deutsche Bildungsbürgertum schon sehr viel früher Bekanntschaft mit diesem (neuen) Wort geschlossen hatte. So erwähnte Adelbert von Chamisso (1829) in seinem Weltreisebericht (1815-1818) die 1 Dies zeigt sich u.a. auch in der Diskussion der Zeitschrift Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht im Jahre 1987. Das sogenannte "Lexikon der Tabus" von Graupmann (1998) sei in dieser Hinsicht zwar erwähnt, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, daß es sich hierbei um ein in wissenschaftlicher Hinsicht nur wenig reflektiertes Werk handelt; eine entsprechende Rezension steht freilich noch aus. 2 Es handelt sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation von Luchtenberg aus dem Jahre 1975 an der Universität Bonn. 3 Eine ausführliche Dokumentation und eine umfangreiche Datenbank zur Tabuforschung befinden sich auf der Homepage des Autors unter der URL-Adresse http://viadrina.euv-frankfurt-o.de/~sw2/Tabu/Index.html 4 Zur Entdeckungsgeschichte des Wortes 'Tabu' durch Cook siehe Seibel (1990, 62-74). 5 Seibel (1990, 75-76) erklärt – in Anlehnung an Franz Steiner – die "wie selbstverständliche Übernahme eines so fremden Wortes wie tabu in die englische Sprache" durch die protestantische Herkunft Cooks und den Zeitgeist der viktorianischen Ära. Tabusitten in Polynesien.6 Hinweise darauf, daß dieser Begriff für die Analyse von 'Kulturvölkern' fruchtbar gemacht werden kann, gibt es in Deutschland seit der Jahrhundertwende; so z.B. in Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1906, wo ausdrücklich erwähnt wird, daß auch 'Kulturvölker' Tabus haben können. Wundt (1926, 390f.) weist im gleichen Jahr darauf hin, daß 'Tabu' "hinreichend in die allgemeine Sprache eingedrungen ist, um gelegentlich auf unsere eigenen Anschauungen und Sitten angewandt zu werden" – nach Wundt "gibt es in der Tat kein Volk und keine Kulturstufe, die des Tabu und seiner beschränkenden oder gefährdenden Wirkungen auf Leben und Freiheit entbehren." Allerdings entstand durch die Übertragung des Wortes eine gewisse Ambiguität hinsichtlich seiner Bedeutung, die bis heute im Sprachgebrauch fortbesteht. Waren bei den Polynesiern Tabus in erster Linie Meidungsgebote hinsichtlich bestimmter Handlungen, so werden im heutigen Sprachgebrauch Tabus viel stärker auf Themen und auf Ausdrücke bezogen. Erwähnenswert ist, daß das Wort 'Sprachtabu' "insbesondere in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur beheimatet" zu sein scheint, während "Äquivalente in anderen Sprachen (engl. linguistic taboo, franz. tabou linguistique; ital. tabu linguistico) entweder durch eigensprachliche Bezeichnungen verdrängt wurden (franz. interdiction linguistique; ital. interdizione linguistica) oder aber weniger häufig als Generalüberschrift des gesamten Themenkomplexes verwendet werden, als das im Deutschen [...] der Fall ist" (Schorch, S. 6, Fußnote 10). 2.2. Beiträge der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich die ersten sprachwissenschaftlichen Arbeiten anführen, die explizit auf Sprachtabus im Kontext des Konzepts der Wortmagie eingehen und dessen Bedeutung – in Anknüpfung an volkskundliche und religionswissenschaftliche Forschungen aus dem 19. Jahrhundert – für die indogermanischen Sprachen nachweisen. Im Fokus dieser eher sprachhistorischen und -vergleichenden Untersuchungen standen dabei insbesondere Namenstabus in Bezug auf die Gottesbezeichnung, auf Tierbezeichnungen und auf tabugeladene Sachverhalte (Tod und Sterben, Krankheiten etc.). Den Stand dieser Untersuchungen hat Havers (1946) in seiner Arbeit zu "Neuere Arbeiten zum Sprachtabu" vortrefflich zusammengefaßt und zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Warum Havers seinen Beitrag mit "neuere" Arbeiten zum Sprachtabu betitelt, ist allerdings aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar, da er den Beginn der neueren sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit Tabus mit Meillet's Aufsatz "Interdictions" (1906) verbindet,7 obwohl vorher, d.h. im 19. Jahrhundert, noch keine (im engeren Sinne) sprachwissenschaftlichen Beiträge zum Sprachtabu vorlagen; jedenfalls nicht solche, die sich explizit auf das Konzept des Sprachtabus unter dieser Bezeichnung bezogen haben. Freilich gab es bereits vor Meillet eine reichhaltige sprachwissenschaftliche Literatur zu Euphemismen in den verschiedenen Sprachen, wozu als Beispiel nur die Arbeit von Bökemann (1904) "Französischer Euphemismus" genannt sei, die den damaligen Forschungsstand zusammenfaßt; in dieser Arbeit wird die Bezeichnung Sprachtabu allerdings noch nicht verwendet, da eine sprachwissenschaftliche Rezeption der volkskundlichen und religionswissenschaftlichen Arbeiten zum Sprachtabu noch ausstand. Neben dem Franzosen Meillet war es wohl vor allem der Schwede Sahlgren (1915), der in seiner Untersuchung "Blåkulla och blåkullafärderna"8 die Konzepte Sprachtabu und Euphemismus miteinander verbunden und deren Bedeutung auch außerhalb der sogenannten 'Naturvölker' mit Beispielen aus der Sprach- und Kulturgeschichte des Schwedischen belegt hat. Er hat dazu – in Anknüpfung an die volkskundliche und religionswissenschaftliche Literatur – den Begriff 'Noawort' eingeführt9. Sahlgren (1915, 132) ging davon aus, daß man in den modernen 'Kultursprachen' noch zahlreiche Reste eines Namenstabus findet; so durfte man im 6 Chamisso (1969) hat sich in seinem Bericht "Über die Hawaiische Sprache" vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 12. Januar 1837 auch als Sprachforscher verdient gemacht. 7 Die Arbeit von Meillet wurde allerdings erst 1921 mit dem Erscheinen seines Werkes "Linguistique historique et Linguistique générale" allgemein zugänglich. Meillet beschäftigt sich in dieser Arbeit mit dem Worttabu in indoeuropäischen Sprachen. 8 Dt.: Blocksberg und Blocksbergfahrten. Von Interesse ist in dieser Arbeit besonders das Kapitel VI zu "Tabu och noa". 9 Noa ist im Polynesischen das Gegenwort zu Tabu, es bezeichnet das gewöhnliche bzw. das normale, d.h. das, was nicht unter dem Einfluß des Mana steht. Schwedischen nicht Wolf sagen, wohl aber Goldfuß oder der Graue. Ein Noawort ist damit ein Ersatzwort, das es ermöglicht, die Dinge zu bezeichnen, die unter einem Tabu stehen: "Tabuorden äro de förbjudna orden, noarorden de tillåtna"10 (Sahlgren 1915, 133). Sahlgren (1915, 136) beschreibt mit seinem Beispielmaterial bereits Fälle des (später so bezeichneten) Tabu-Euphemismus-Zyklus, d.h. die Tatsache, daß Noawörter selber zu Tabuwörtern werden und durch neue Noawörter ersetzt werden müssen. Als früher deutschsprachiger Beitrag sei Ode (1927) mit der Arbeit "Reflexe von 'Tabu' und 'Noa' in den indogermanischen Sprachen" genannt, in der die Begriffe 'Mana', 'Noa', 'Tabu' im Hinblick auf indogermanische Sprachen diskutiert und Beispiele für durch Sprachtabus entstandene 'Frauensprachen' gegeben werden. Eine weitere frühe – linguistisch relevante – Arbeit zum Sprachtabu stammt aus der Entwicklungspsychologie von Heinz Werner (1919), der in seiner Monographie "Die Ursprünge der Metapher" ausführlich auf das Konzept des Sprachtabus eingeht, und der die Aufgabe der Metapher nicht in der des Hervorhebens sondern als Umgehungsstrategie für tabuisierte Bereiche identifiziert und dem Sprecher ein Verhüllungsbedürfnis unterstellt. Karl Bühler (1934) hat sich später in seiner "Sprachtheorie" kritisch mit der Arbeit von Werner beschäftigt und diese Erklärung weitgehend zurückgewiesen. Nach Bühler (1934, 354) sind nicht die Metaphern, sondern vor allem die Metonymien "das reine und völlig ausreichende Ersatzmittel eines hochgradig tabu-gehemmten, um nicht zu sagen tabu-verseuchten Sprechverkehrs." Im Juni des Jahres 1922 schrieb die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig einen Preis zur folgenden Thematik aus: "Tabu. Es soll eine zusammenfassende Studie der Verteilung, der Benennung, der Forschungsgeschichte, der Erscheinungsformen und des Wesens des Tabu, Tabubegriffs und seiner Analoga gegeben werden." Im Dezember 1925 wurde der Preis Friedrich Rudolf uploads/Litterature/ sprachtabu-euphemismen.pdf
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- Publié le Jan 30, 2021
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