Wenn es zutrifft, daß jedes Werk aus der Vergangenheit nur in bestimmten Moment

Wenn es zutrifft, daß jedes Werk aus der Vergangenheit nur in bestimmten Momenten seiner Geschichte zu seiner ganzen Lesbarkeit gelangt, so scheint fUr die Brieft des Paulus die Zeit jetzt gekommen. Giorgio Agam- ben gibt ihnen jenen messianischen Stellenwert zurück, der allein die Per- spektive einer nunmehr zweitausendjährigen Deutungstradition neu aus- richten kann: Paulus gründet keine universelle Religion, indem er eine. neue Identität und eine neue Berufung ankündigt, sondern er widerruft jede Identität und jede Berufung; er schafft das alte Gesetz nicht ab, son- dern öffnet es zu einem Gebrauch, der jenseits jeden Gesetzes liegt. Von der Paulinischen Botschaft bis zu den Thesen Ober den Begriff der Geschichte Walter Benjamins (die bisweilen außerordentliche Entlehnun- gen aus ihr enrbalren) bildet die Umkehrung von Vergangenheit und Zu- kunft, von Erinnerung und Hoffnung das Herzstück des Messianismus. Die messianische Zeit ist die Jetztzeit; als Segment der profanen Zeit zwi- schen der WiederauferstehungJesu und dem apokalyptischen Ende konsti- tuiert sie sich in der Zeiterfahrung der Gegenwart. Agambens Buch hält sich an das messianische Vorbild einer »schwindelerregenden Rekapitula- tion«: Das exegetische Wissen der Bibel geht über in die Illuminationen des Philosophen, der, ausgehend von Schmitt, Kafka und Scholem, die Paulinischen Texte befragt und in ihnen die begrifflichen Wutzeln der HegeIschen Dialektik findet. Giorgio Agamben, geboren 19~, lehrt Philosophie an der Universität Ve- nedig. Im Suhrkamp Verlag liegt vor: Homo sacer (es 2068), Was von Ausch- witz bleibt (es 2300), Ausnahmezustand (es Z366), Das Offene (es 2441), Profonierungen (es 2407), Idee der Prosa (BS 1360), Kindheit und Geschichte (BS 1379). Giorgio Agamben Die Zeit, die bleibt Ein Kommentar zum Römerbrief Aus dem Italienischen von Davide Giuriato Suhrkamp Titel der Originalausgabe: 11 tempo ehe resta. Un commento alla Lettera ai Romani Torino: Bollati Boringhieri 2000 edition suhrkamp 1453 Erste Auflage 1006 © Giorgio Agamben 1000 © der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1006 Deutsche Erstausgabe Alle Rechte vorbehalten. insbesondete das des öffentlichen Vortrags sowie der übertragung durch Rundfunk und Fernsehen. auch einzelner Teile. Kein Teil des Werke. darf in irgendeiner Form (durch Fotografie. Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet. vervieilliltigt oder verbreitet werden. Satz: Bibliomania GmbH. Ftankfurt am Main Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Flcckhaus: Ralf Staudt Printcd in Germany ISBN 978-3-518-11453-6 4 5 6 - 11 10 09 08 07 Inhalt Vorbemerkung ....... ,.......................... 9 Erster Tag Paulos doulos christou lisou ............... 11 Jacob Taubes in memoriam 13. Die Sprache des Paulus 13. Mhhodos 16. Die zehn Worte 16, Paulos 17. Über den guten Gebrauch des Klatschs 19. Doulos 23. Talmud und Corpus iuns 25, Christou Iisou 26, Eigennamen 27 Zweiter Tag Kletos ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Beru/3o. Berufung und Widerrufung 34. Chresis 37. Klisis und Klasse 40, Als ob 46, Impotentialis 49, Erfordernis 50, Das Unvergeßliche 51. Gleichnis und Reich 54 Dritter Tag Aphörismenos ......................... 56 Pharisäer 57. DaS geteilte Volk 59, Der Schnitt des Apelles 62, Rest 66, Das Ganze und der Teil 68 Vierter Tag Apostolos ............................. 72 Nabi n Apokalyptisch 75, Operative Zeit 78. Kair6s und chronos 82, Parousia 83. Tausendjähriges Reich 86. 7jpos 87. Rekapitulation 89, Erinnerung und Rettung 91. Das Gedicht und der Reim 93 Fünfter Tag Eis euangelion theou . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 101 Eis 101. Euangelion 101. Plerophorfa 104 Nomos 1°5. Abraham und Moses 106", Katargefn 1°9. Astheneia III, AufhebungII3. Nullpunkt II5. Ausnahmezustand II8, Das Geheimnis der anomia 123. Antichrist 125 Sechster Tag (Eis euangelion theou) . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127 Schwur 127, Deditio infidem 129, BeritI3I, Unentgelt- lichkeit 133> Die beiden Bünde 135, Gabe und Gnade 137, Der geteilte Glaube 138, Glauben an 141, Nominalsatz 142, Das Wort des Glaubens 144, Performativ 147, Performativum ftdei ISO, Das nahe Wort ISI Schwelle oder tornada ............................ 153 Zitat 153, Bild Is8,Jetztzeitl59 Anhang Referenzstellen aus den Paulinischen Texten. . . 163 Anmerkungen zur Obersetzung und zur Zitierweise .... " 224 Literaturverzeichnis ...................... .-. . . . . . .. 227 Namenregister ................................... 231 Die Zeit, die bleibt ,.~i;'l KJP "'?tc iiP~"i'~ "~Q'"iI~ 't:!~ n~~~Q-n~ ,r;if Weissagung über die Stille. Aus SeYr ruft man mir zu: Wächter, wie lange noch dauert die Nacht? Wächter, wie lange noch dauert die Nacht? Jesaja 2I,II 7 Vorbemerkung Die in diesem Buch vorgestellten überlegungen sind im Rah- men von mehreren Seminaren entstanden: Zuerst in aller Kürze im Oktober 1998 am Pariser College international de Philoso- phie, dann im Wintersemester 1998/99 an der Universität Ve- rona und schließlich im April 1999 an der Northwestern Uni- versity (Evanston) und im Oktober desselben Jahres an der Uni- versity of California (Berkeley). Das hier veröffentlichte Buch ist das Ergebnis dieses fortschreitenden Wachstums und hat den Gesprächen mit den Studenten und Dozenten, die an den Se- minaren teilgenommen haben, vieles zu verdanken. Die Form blieb bei jedem Treffen konstant: der Kommentar zu den zehn Wörtern des ersten·Verses, die den RömerbrieJeröffnen und die in jedem Sinn ad titteram gelesen wurden.' . In der Transkription der griechischen Wörter in lateinische Buchstaben wird der stets zu einem Akut vereinfachte Akzent nur bei mehrsilbigen Wörtern (bei zweisilbigen nur dann, wenn er auf die letzte Silbe flillt) gesetzt. Der Leser kann im Anhang den griechischen Text, d. h. die ~n den Seminaren analysierten und die direkt mit ihnen zusammenhängenden Stellen, in einer Interlinearübersetzung finden. Der griechische Text stammt aus der von Eberhard Nestle bestellten kritischen Edition (NoVum Testamentum graece et latine, herausgegeben von Erwin Nestle und Kurt Aland, United Bible Societies. London 251963). Die deutsche Interlinearübersetzung wurde unter Zuhilfenahme der übersetzung von Ernst Dietzfelbinger erstellt (Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch, Neuhau- sen-Stuttgart 41990). 9 Erster Tag Paulos doulos christou Iesou Das vordringlichste Ziel dieses Seminars besteht darin, die Be- deutung der Paulinischen Briefe als grundlegenden messiani- schen Text der westlichen Kultur wiederherzustellen. Eine auf den ersten Blick banale Aufgabe, da niemand den messiani- schen Charakter der Briefe ernsthaft bezweifeln möchte. Gleichwohl ist diese Aufgabe nicht selbstverständlich, da eine nunmehr zweitausendjährige Praxis des Übersetzens und Kom- mentierens, die mit der Geschichte der christlichen Kirchen zusammenfällt, den Messianismus - und mit ihm den Ausdruck »Messias« selbst - buchstäblich aus dem Paulinischen Text ge- strichen hat. Dies bedeutet nicht, daß man" sich so etwas wie eine vorsätzliche Strategie vorzustellen hat, die den Messianis- mus in seiner Wirksamkeit neutralisieren wollte. Zwar haben zweifellos zu verschiedenen Zeiten und auf unterschiedliche Ar- ten sowohl in der Kirche als auc~ in der Synagoge antimessiani- sche Tendenzen gewirkt. Aber das Problem ist grundlegender. Aus Gründen, die im Verlauf des Seminars noch geklärt werden, stellt sich einer messianischen Institution - d. h. einer messiani- schen Gemeinschaft, die als Institution auftreten möchte - eine paradoxe Aufgabe. Wie Jacob Bernays einmal ironisch festgehal- ten hat, ist »es nicht bequem, den Messias im Rücken zu haben« (Glucker 1996, S. 257) - ihn aber stets vor sich zu haben kann sich als ebenso unbequem erweisen. In beiden Fällen steht eine Aporie zur Diskussion, die die Struktur der messianischen Zeit selbst betrifft und die der be- sonderen Verbindung von Erinnerung und Hoffnung, Vergan- genheit und Gegenwart, Fülle und Leere, Ursprung und Ziel inhärent ist. Die Möglichkeit, die Botschaft des Paulus zu ver- stehen, fällt mit der Erfahrung dieser Zeit vollständig zusam- men: Ohne diese Erfahrung bleibt jene als toter Buchstabe zu- rück. Daher wird das Unterfangen, Paulus wieder in seinem messianischen Kontext zu verorten, für uns zuallererst bedeuten II zu versuchen, den Sinn und die innere Form derjenigen Zeit zu verstehen, die bei ihm ho nyn kairOs, die »Jetztzeit«, heißt. In diesem Sinn kann man festhalten, daß es eine untergrün- dige Solidarität zwischen der Kirche und der Synagoge gegeben hat, indem sie beide Paulus als Begründer einer neuen Religion dargestellt haben - eine Rolle, die er, der sich dem Ende der Zeit nahe glaubte, zweifellos nie sich zu geben geträumt hätte. Die Gründe für diese Komplizenschitft sind offensichtlich: Bei- den ging es darum, das Judentum des Paulus zu streichen oder zumindest abzuschwächen, d. h. ihn seinem ursprünglich mes- sianischen Kontext zu entreißen. Aus genau diesem Grund gibt es seit geraumer Zeit eine jüdi- sche Literatur zu Jesus, die ihn mit Wohlwollen behandelt - a niee guy, lautete Jacob Taubes' scherzender Kommentar, oder Bruder ]esus, wie ein Buch von Ben Chorim von 1967 betitelt ist. Aber erst vor kurzem wurde der jüdische Kontext des Paulus von hebräischen Gelehrten ernsthaft neu bewertet. Noch als in den 1950er Jahren das Buch Paul and Rabbinie ]udaism von W. D. Davies nachdrücklich die Aufmerksamkeit auf den grundlegend jüdisch-messianischen Charakter des Paulinischen Glaubens richtete, waren die hebräischen Studien zum Thema maßgeblich von Bubers Buch Zwei Glaubensweisen beeinflußt. Die These dieses Buches - »die ich für höchst dubios halte, aber an der ich viel gelernt habe« (Taubes 1993, S. 16) und auf die wir zurückkommen uploads/Litterature/ giorgio-agamben-die-zeit-die-bleibt-ein-kommenbook4you-pdf.pdf

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