Jacques Derrida ist Professor für Philosophiegeschichte an der Ecole Normale Su

Jacques Derrida ist Professor für Philosophiegeschichte an der Ecole Normale Superieure in Paris. Von seinen Publikationen liegen im Suhrkamp Verlag vor: Die Schrift und die Differenz (stw 177); Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls (es 945). Unter dem Titel Grammatologie erarbeitet Jacques Derrida eine Theorie der Schrift, des Zeichens, des Bezeichnens, die eine Reihe tradierter Vorstellungen und Begriffe in Frage stellt, u. a.: Ver- nunft, Ursprung, Subjekt, Geschichte (die immer nur eine Ge- schichte der »Vernunft« gewesen sei). Im ersten Teil des Buches - »Die Schrift vor dem Buchstaben« - entwirft Derrida eine theoretische Grundlage, die er im zweiten Teil - »Natur, Kultur, Schrift« - an einem Schlüsseltext des euro- päischen Logozentrismus überprüft, nämlich an Rousseaus Essai sur Vorigine des langues, dessen (von Levi-Strauss her unternommene) Lektüre zu einer Lektüre der Epoche Rousseaus wird. Jacques Derrida Grammatologie Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler Suhrkamp Titel der Originalausgabe: De la grammatologie © 1967 by Les Editions de Minuit, Paris CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Derrida, Jacques: Grammatologie / Jacques Derrida. Übers, von Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. - 2. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 417) Einheitssacht.: De la grammatologie <dt.> ISBN 3-518-28017-1 NE: GT suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 417 Erste Auflage 1983 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1974 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 2 3 4 5 6 - 88 Inhalt Vorbemerkung 7 ERSTER TEIL: DIE SCHRIFT VOR DEM BUCHSTABEN 9 Devise 11 Kapitel 1 Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift 16 Kapitel 2 Linguistik und Grammatologie 49 Kapitel 3 Grammatologie als positive Wissenschaft 130 ZWEITER TEIL: NATUR, KULTUR, SCHRIFT 171 Einleitung in die »Epoche Rousseaus« 173 Kapitel 1 Die Gewalt des Buchstabens: von Levi-Strauss zu Rousseau 178 Kapitel 2 »Dieses gefährliche Supplement.. .« 244 Kapitel 3 Genese und Struktur des Essai sur Vorigine des langues 283 Kapitel 4 Vom Supplement zur Quelle: die Theorie der Schrift 459 gensatzes, der sie während einer Phase ihres gemeinsamen Vormarsches aufeinander bezogen hat, zutiefst damit ver- bunden ist. Die Geschichte und das Wissen, historia und episteme waren schon immer — nicht nur von der Etymolo- gie und der Philosophie her - als Umwege im Hinblick auf die Wiederaneignung der Präsenz bestimmt. Aber jenseits der theoretischen Mathematik vergrößert die Entwicklung der iniormaxÄonspraktiken auch die Möglich- keiten dessen, was man »message« nennt, so daß diese nicht mehr die »geschriebene« Übersetzung einer Sprache dar- stellt, die Übertragung eines Signifikates, das als Gesproche- nes vollständig erhalten bleiben könnte. Hinzu kommt die Ausweitung der Phonographie und all jener Mittel, mit deren Hilfe die gesprochene Sprache konserviert und außer- halb der Präsenz des sprechenden Subjektes verfügbar ge- macht werden kann. Die mit der Ethnologie und der Ge- schichte der Schrift gekoppelte Entwicklung lehrt uns also, daß die phonetische Schrift, das Zentrum des großen meta- physischen, wissenschaftlichen, technischen und ökonomi- schen Abenteuers des Abendlandes, zeitlich und räumlich begrenzt ist. Sie stößt in dem Augenblick an ihre Grenzen, wo sie im Begriff ist, ihr Gesetz auch noch denjenigen kul- turellen Bereichen aufzuzwingen, die sich ihr bisher ent- ziehen konnten. Dieses nicht zufällige Zusammentreffen von Kybernetik und »Humanwissenschaften« der Schrift verweist jedoch auf eine noch viel tiefer gehende Erschütte- rung. Der Signifikant und die Wahrheit Die »Rationalität« — aber vielleicht müßte auf dieses Wort aus dem Grunde, der am Ende dieses Satzes sichtbar wird, verzichtet werden -, die eine derart erweiterte und radikali- sierte Schrift beherrscht, stammt nicht mehr aus einem Lo- gos. Vielmehr beginnt sie mit der Destruierung und, wenn nicht der Zerschlagung, so doch der De-Sedimentierung, der Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt. Das gilt besonders für die Wahr- 23 heit. Alle metaphysischen Bestimmungen der Wahrheit, selbst jene, an die uns Heidegger, über die metaphysische Onto-Theologie hinaus, erinnert, sind mehr oder weniger unmittelbar nicht zu trennen von der Instanz eines Logos oder einer von ihm abstammend gedachten Vernunft, wie immer man diesen Logos auch verstehen mag: im vorso- kratischen oder im philosophischen Sinne, als unendlichen Verstand Gottes oder im anthropologischen Sinne, im vorhegelschen oder im nachhegelschen Sinne. In diesem Lo- gos war die ursprüngliche und wesentliche Verbindung zur phone niemals unterbrochen, was unschwer zu zeigen wäre und was wir zu einem späteren Zeitpunkt auch zu zeigen versuchen wollen. Das Wesen der phone, wie es mehr oder weniger implizit bestimmt wurde, stünde unmittelbar dem nahe, was im »Denken« als Logos auf den »Sinn« bezogen ist, ihn erzeugt, empfängt, äußert und »versammelt«. Wenn beispielsweise für Aristoteles »das in der Stimme Verlau- tende (T& ev trj qpcovfi) Zeichen für die in der Seele hervor- gerufenen Zustände (jTadr|[AaTa xr\c, Xyvyx\q) un(^ das Ge- schriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende« ist {De interpretatione I, 16 a 3), so deshalb, weil die Stimme als Erzeuger der ersten Zeichen wesentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt ist. Als Erzeuger des ersten Signi- fikanten ist sie nicht bloß ein Signifikant unter anderen. Sie bezeichnet den »Seelenzustand«, der seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert. Zwi- schen dem Sein und der Seele, den Dingen und den Affek- tionen bestünde ein Verhältnis natürlicher Übersetzung oder Bedeutung; zwischen der Seele und dem Logos ein Verhältnis konventioneller Zeichengebung. Die erste Kon- vention, welche ein unmittelbares Verhältnis zur Ordnung der natürlichen und universalen Bedeutung hätte, entstünde als gesprochene Sprache. Die geschriebene Sprache hielte Konventionen fest, die miteinander weitere Konventionen eingingen. »Und wie nicht alle dieselben Schriftzeichen haben, so sind auch ihre stimmlichen Verlautbarungen nicht dieselben: worauf diese Zeichen freilich allererst verweisen, das sind bei allen gleiche Seelenzustände, und ebenso sind die Dinge, denen diese entspre- dien, für alle vorweg die gleidien.« (16a, von mir hervorgehoben, J.D.) Sind die Affektionen der Seele der natürliche Ausdruck von Dingen, so bilden sie eine Art Universalsprache, die in der Folge dann vernachlässigt werden kann. Aristoteles kann diese Stufe der Transparenz an manchen Stellen unbe- denklich außer acht lassen.5 Jedenfalls ist die Stimme dem Signifikat am nächsten, ob man es nun sehr genau als (ge- dachten oder gelebten) Sinn oder etwas weniger genau als Ding bestimmt. Jeder Signifikant, zumal der geschriebene, wäre bloßes Derivat, verglichen mit der von der Seele oder dem denkenden Erfassen des Sinns, ja sogar dem Ding selbst untrennbaren Stimme (gleichviel, ob man im Sinne des.be- reits angedeuteten aristotelischen Gestus oder im Sinne des Gestus mittelalterlicher Theologie verfährt, die die res von ihrem eidos, von ihrem im Logos oder im unendlichen Ver- stand Gottes gedachten Sinn aus als geschaffenes Ding bestimmte). Der Signifikant wäre immer schon ein techni- scher und repräsentierender, wäre nicht sinnbildend. Diese Derivation ist der eigentliche Ursprung des Begriffs des »Signifikanten«. Der Begriff des Zeichens impliziert immer schon die Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifi- kant, selbst wo diese (Saussure zufolge) letzten Endes nichts anderes sind als die zwei Seiten ein und desselben Blattes. Unangetastet bleibt somit ihre Herkunft aus jenem Logo- zentrismus, der zugleich ein Phonozentrismus ist: absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns. Hegel zeigt das in der Idealisierung des Lautes zum Vorschein kommende 5 Dies weist Pierre Aubenque in Le probleme de l'etre chez Aristote (p. 106 sq.) nach. Im Laufe einer bemerkenswerten und vorbildlichen Analyse vermerkt er: »Es ist richtig, daß Aristoteles in anderen Texten das Verhältnis der Sprache zu den Dingen als zeichenhaftes bestimmt: • > E s ist nicht möglich, im Gespräch die Dinge selbst herbeizuschaffen; vielmehr müssen wir uns anstelle der Dinge ihrer Namen als Zeichen bedienen.< Die durch den Seelenzustand hergestellte Vermittlung wird hier unterdrückt, zumindest aber vernachlässigt; die Unterdrückung ist jedoch legitim, da die Dinge den Seelenzuständen, die sich wie diese verhalten, unmittelbar substituiert werden können. Hingegen kann der Name nicht einfach Substitut eines Dinges sein .. .« (pp. 107-108) seltsame Privileg der Hervorbringung des Begriffs und der Selbstpräsenz des Subjektes sehr genau auf. »Diese ideelle Bewegung, in welcher sich durch ihr Klingen gleichsam die einfache Subjektivität, die Seele der Körper äußert, faßt das Ohr ebenso theoretisch auf als das Auge Gestalt oder Farbe und läßt dadurch das Innere der Gegenstände für das Innere selbst werden.« (Ästhetik, III, Einleitung, Werke, Bd. 14, Suhrkamp, Frankfurt 1970, p. 256) ». . . Das Ohr dagegen vernimmt, ohne sich selber praktisch gegen die Objekte hinauszuwenden, das Resultat jenes inneren Erzit- terns des Körpers, durch welches nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern die erste ideellere Seelenhaftigkeit zum Vor- schein kommt.« (3. Abschnitt, ibid. Bd. 15, p. 134) Das vom Laut im allgemeinen Gesagte gilt a fortiori für die stimmliche Verlautbarung, die Phonie, durch die das Subjekt vermöge des unauflöslichen Systems des Sich-im- Sprechen-Vernehmens sich selbst affiziert und sich im Ele- ment der Idealität auf sich selbst bezieht. Man ahnt bereits, daß der Phonozentrismus mit der histo- rischen Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als Präsenz verschmilzt, im Verein mit all den Unterbestimmungen, die von dieser uploads/Geographie/ 05-derrida-grammatologie-auszug-23-35.pdf

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